Eine Form der Stigmatisierung?

Rechenschwäche „Kinder mit Dyskalkulie werden behandelt, als sei ihnen nichts beizubringen“

Mathedidaktiker Wolfram Meyerhöfer ist sich sicher: Ein guter Lehrer kann jedem Kind die Grundlagen im Rechnen beibringen.

Dabei sei es möglich, jedem Kind Grundlagen im Rechnen zu vermitteln, sagt ein Mathedidaktiker. Er hält die Rechenstörung für eine Ausrede der Schulen.

Interview von Larissa Holzki

Der Mathematikdidaktiker Wolfram Meyerhöfer erforscht an der Universität Paderborn, wie Kinder sich Zahlen aneignen. Dass angeblich sechs Prozent von ihnen genetisch bedingt nicht Rechnen lernen können, wie Kinderpsychiater und Interessenverbände behaupten, stellt er in Frage. Die Dyskalkulie-Diagnose entlaste Eltern und Lehrer – helfe aber niemals dem Kind.

SZ: Herr Meyerhöfer, die Weltgesundheitsorganisation gibt eine international anerkannte Liste mit den Definitionen von Krankheiten heraus. Darin findet man auch die Rechenstörung oder Dyskalkulie. Sie haben weder Psychologie noch Medizin studiert, behaupten aber: Diese Krankheit gibt es nicht. Wie kommen Sie darauf?

Wolfram Meyerhöfer: Ich beschäftige mich mit dem Erlernen des Rechnens und sehe: Es gibt Lehrer, die haben keine Schüler mit diesen besonderen Schwierigkeiten und es gibt Lehrer, da müssen die Schüler fast reihenweise zur Rechentherapie. Außerdem sehe ich, dass man diesen vorgeblich kranken Kindern das Rechnen erfolgreich beibringen kann.

Mediziner haben beobachtet, dass bei Kindern mit Dyskalkulie bestimmte Hirnregionen vermindert oder verzögert arbeiten. Solche Befunde lassen sich doch nicht wegargumentieren.

Es bleibt unter anderem unklar, ob das die Spur des Nicht-Rechnen-Könnens ist oder aber deren Ursache. Mediziner sagen in all ihren Ansätzen im Grunde: Wir beschreiben das Phänomen, dass Leute in ganz massiver Weise nicht rechnen können. Wir nehmen an, dass in ihrem Kopf etwas nicht in Ordnung ist. Wir wissen nicht genau, was das ist und wir können ihnen auch nicht helfen. Aber wir heften erst mal ein Label dran. Ich schlage vor: Lasst uns mit der Annahme arbeiten, dass im Kopf des Kindes alles in Ordnung ist und dass der Lehrer, der ihm das Rechnen beibringen soll, einfach nicht in der Lage ist, mit dem mathematischen Denken dieses Kindes umzugehen.

Was ist so schlimm daran, wenn man von Dyskalkulie spricht? Viele Eltern und Lehrer beschreiben es als Erleichterung, wenn sie endlich wissen, warum das Üben nichts hilft – auch für das Kind
Ich sehe, dass da eine neue Form der Stigmatisierung stattfindet. Die Lehrer sagen: „Dieses Kind ist krank, ich kann nichts dafür, dass es nicht rechnen kann.“ Kinder mit einer diagnostizierten Dyskalkulie werden behandelt, als sei ihnen sowieso nichts beizubringen.
Und die Eltern? Die haben oft jahrelang mit den Kindern geübt, haben sich mit ihnen gestritten, an sich selbst gezweifelt…
Es ist nicht Aufgabe der Eltern, den Kindern das Rechnen beizubringen, sondern die der Institution Schule und ihres Fachpersonals. Es ist aber oft so, dass Eltern betroffener Kinder selbst Angst vor Mathematik haben und alles vermeiden, was damit zu tun hat. Sie stellen ihren Kindern keine Fragen wie: „Wie viele Äpfel liegen da?“; „Wie viele Kirschen kriegt jeder von uns?“ Und sie geben ihnen auch kein Taschengeld, das sie sich selbst einteilen dürfen. Damit könnten die Kinder ein Gefühl für große und kleine Beträge entwickeln. Es gibt auch intellektuell anregungsreiche Elternhäuser, die mathematisch ziemlich anregungsarm sind.

„Häufig verstehen die Kinder nicht, dass die Zahlen Anzahlen beschreiben“

Was macht sie so sicher, dass die Kinder Rechnen lernen könnten?

Die sinnhafte Rechenförderung. Egal, wie alt die Leute sind: Wir fangen mit ihnen nochmal ganz am Anfang des Zahlbegriffs an – und es führt zum Erfolg. Da wird also keine Kranheit behandelt und da passiert nichts, was im ganz normalen Schulunterricht nicht auch passieren sollte.

Was genau sind die Schwierigkeiten dieser Kinder?

Häufig verstehen die Kinder nicht, dass die Zahlen im Matheunterricht Anzahlen beschreiben. Bei vielen Zahlen, die ihnen im Alltag begegnen, ist das ja auch nicht so: Hausnummern, Kalenderdaten, Telefonnummern…

Das heißt, Zahlen sind für sie nur Worte oder Zeichen?

Richtig. Dazu kommt, dass viele Kinder nicht verstanden haben, dass Zahlen aus anderen Zahlen, im Grunde aus lauter Einsen, aufgebaut sind. Ein Beispiel: Wenn sie 37 plus 12 rechnen sollen, denken sie, „ich rechne die Zahlen hinten zusammen und ich rechne die Zahlen vorne zusammen“. Sie haben also gar kein Verständnis dafür, dass die Ziffern vorne Zehner und die Ziffern hinten Einer repräsentieren und was da mengenmäßig passiert
Dyskalkulie wird bei vielen Kindern erst in der dritten oder vierten Klasse diagnostiziert. Wie kann es sein, dass das fehlende Grundverständnis so lange unbemerkt bleibt?
Lehrer sind gut darin, zu erkennen, welche Fehler ein Kind macht. Aber sie sind auffällig schlecht darin, herauszukriegen, wie das Kind auf das Resultat kommt. Jedes Kind löst Rechenaufgaben am Anfang zählend. Es kennt also die Zahlwortreihe 1-2-3-4-5 und so weiter. Sechs plus drei wird zunächst so gedeutet, dass ich von der sechs auf der Zahlwortreihe drei weitergehe. Es ist aber ein fundamentaler Unterschied, ob ich denke, neun ist drei weiter als sechs oder neun ist drei mehr als sechs. Außerdem können Kinder Aufgaben auswendig lernen.
Und damit kommen die Kinder durch?
Mit reinem Pauken und zählendem Rechnen reicht es bei vielen Kindern immer irgendwie zu einer drei auf dem Zeugnis. Da können sich Lehrer und Eltern einreden, dass das schon noch wird. Aber spätestens beim Bruchrechnen kommen die Kinder überhaupt nicht mehr klar. Wenn sie dann ganz von vorne anfangen müssen, hängen sie Jahre hinterher.
Was unterscheidet also die guten von den schlechten Lehrern?
Ein guter Lehrer spricht sehr viel mit den Kindern, zum Beispiel über die Relationen von Zahlen. Er schafft Anlässe, Sätze zu sagen, wie „sieben ist zwei mehr als fünf“, „fünf ist zwei weniger als sieben“, „sieben setzt sich aus sieben Einsen zusammen und fünf nur aus fünf Einsen, das sind zwei weniger“. Und er fragt, wie sie zu ihren Ergebnissen gelangen. In der ersten Klasse müssen die Kinder von ihren zählenden zu nicht-zählenden Strategien kommen. Wenn dies nicht passiert, muss die Schule unbedingt eingreifen, aber oftmals tut sie das nicht. Im Gespräch über die Rechenwege behält der Lehrer im Blick, wie die Schüler Zahlen und Rechenoperationen denken, und die Kinder können sich die Lösungswege ihrer Mitschüler abschauen. Die Tendenz ist aber leider eine andere: Grundschüler wurschteln zunehmend alleine an ihren Arbeitsblättern rum.
Original
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